Sindelfinger Fußballhelden in der Gauliga
Willi Wicke, Willi Schif, Otto Schmidt, Walter Cronauer, August Strohmaier, Hermann Hosang, Eugen Eissler und Otto Fütterer (hinten von links), Walter Müller, Gottlob Müller und Weyandt Jost
(vorne von links). Die Häfte davon starb im Zweiten Weltkrieg, insgesamt ließen da 39 aktive Fußballer des VfL Sindelfingen ihr Leben. Zur Aufstiegsmannschaft von 1939 gehörten außerdem Walter
Eichler, Erwin Oldendorff, Wilhelm Ochs, Erich Baumer und Willi Vetter.
Trainer war Max Stauch.
Bild: privat
Samstag, 10.08.2019, SZ/BZ-Online
(Redakteur Jürgen Wegner · 09.08.2019)
Wie Alfred Wagner vor 80 Jahren als Zwölfjähriger den VfL beim Aufstieg in Deutschlands höchste Klasse begleitete
Ein Platz ist noch frei, für Alfred Wagner ist es der Schönste auf der Welt. Denn es grenzt fast an ein Wunder, dass der Wagen nicht voll besetzt ist. Vielleicht ist es ein Opel, vielleicht ein
Mercedes, heute weiß das der 92-Jährige (Bild: P. Bausch) nicht mehr genau. „Es lebt ja keiner mehr, den ich fragen könnte.“
Jedenfalls will halb Sindelfingen nach Heilbronn, sogar ein Sonderzug ist unterwegs. Die Himmelsstürmer von der Steige greifen nach den Sternen, nur noch ein einziger Punkt im Unterland trennt die
Fußballer von Deutschlands höchster Spielklasse. Die Gauliga ist zum Greifen nah, und Alfred Wagner traut seinen Ohren kaum. Sein Nachbar Reinhold Kölle, der damals beim VfL im Spielausschuss sitzt,
fragt den Jungen tatsächlich, ob er mitfahren will. Denn bei Emil Keim – Großvater der Segelflug-Weltmeisterin Katrin Senne – ist noch ein Plätzchen frei.
80 Jahre ist das her, und genau genommen spielen die Blau-Weißen auch heute dort, wo damals die Grenzen lagen. Am heutigen Samstag geht es zum Saisonauftakt nach Neckarrems. Die Verbandsliga ist
immer noch Württembergs Oberhaus – doch damals gab es nichts Höheres. Keine Bundesligen. Keine Regionalliga, nicht einmal eine Oberliga. Wer in der Gauliga kickte, war ganz oben, und die Meister
duellierten sich dann um deutsche Titelehren.
Auch für Alfred Wagner gibt es nichts Größeres, damals, 1939. Einen Fernseher besitzt niemand, ein Radio nur mancher. Die Geländespiele in der Hitlerjugend haben vielleicht noch etwas für sich, da
müssen alle hin, „und wir gingen auch gerne, denn wir hatten keine Ahnung, wo das hinführt“, sagt er heute. Aber die Fußballspiele auf der Steige, dort, wo keine Nazifahnen dominieren, sondern die
blau-weißen des VfL Sindelfingen, das sind Festspiele.
In Massen pilgern sie hinauf. Wo heute das Krankenhaus steht, liegt das sandige Feld, aus dem die Träume sind. Der Weg ist steinig – von wegen Asphalt. Ein Fuhrwerk packt das vielleicht, ein Auto nie
und nimmer. Parkplätze gibt es eh nicht. Die Menschen putzen sich raus, Mann trägt Hut, Anzug und Krawatte. Kirche, Mittagessen, Fußball, so läuft es am Sonntag. In der Schnödenecksiedlung am
Klostersee enden die Häuser, von hier aus zieht sich das Band der in den Bann gezogenen zum Sportplatz hinauf. „Weniger als 1000 Zuschauer sind es nie“, sagt Alfred Wagner.
Helden mit blutigen Knien
Er verehrt seine Helden in kurzen Hosen und mit den blutigen Knien, weiß von jedem, wo er wohnt und wo er arbeitet. Der Fußball schweißt zusammen, die meisten sind
waschechte Sindelfinger. Ein paar Nei'geschmeckte hat Trainer Max Stauch nach Sindelfingen gelotst, weil er als Obermeister beim Daimler einen kurzen Draht in die Autofabrik hat und Arbeit besorgen
kann. Sie alle sind in der Stadt so bekannt wie beliebt.
Es geht ja auch steil bergauf für den noch jungen Verein, den es offiziell erst seit dem 31. Januar 1937 und der Verschmelzung von Turnverein und Turnerbund gibt. Den eigentlichen Gründervätern tut
man mit diesem Datum freilich unrecht. Männer wie Robert Ortlepp, Otto Dipper oder Felix Nissler stellen schon 1911 eine Mannschaft auf die Beine und rammen Stangen in die Lützelwiesen. Was daraus
werden sollte, konnten sie nicht ahnen.
Jedenfalls steigt Alfred Wagner an jenem Tag in den Wagen von Emil Keim, der auf die in den Boden gestampfte Autobahn einbiegt. Mit seinen 12 Jahren ist das für den fußballverrückten Jungen eine
Sensation. „Meine weiteste Reise bis dahin ging mit dem Omnibus nach Stuttgart oder zu den Uracher Wasserfällen.“ Da ist Heilbronn noch mal eine andere Nummer, und die Ausgangslage ist klar: Die
Esslinger Sportfreunde hatten sich aus dem Dreikampf um den Aufstieg schon chancenlos verabschiedet, der VfL gewann das Hinspiel gegen den Heilbronner SV. Es reicht also ein Unentschieden.
Herr Laws und seine Fahnen
Vor dem Stadion ist es ein riesiger Menschenauflauf. Herr Laws hat kistenweise blau-weiße Fähnchen dabei. „Er war kein Sindelfinger, auch seinen Vornamen weiß ich nicht mehr, aber ich kann mich noch
genau erinnern, was er immer rief“, sagt Alfred Wagner. „Kein Sieg ohne Fahne, ohne Fahne kein Sieg“ schallen dessen Marktschreie übers Gelände.
Die Fähnchen finden reißenden Absatz, die VfL-Familie rückt zusammen. Der Platz: ein echter Rasen, für Sindelfinger ein Traum. „Ein paar Tausend Zuschauer“, so Alfred Wagner, drängen sich am
Spielfeldrand. Sie stehen so eng an der Linie, dass die Spieler ihren Atem spüren. Es ist angerichtet, es darf einfach nichts schiefgehen. Es dauert, der Favorit aus Sindelfingen tut sich schwer. Die
zweite Halbzeit bricht an. Dann fällt das Leder Walter Cronauer vor die Füße. Der Junge aus Pirmasens, den es zum Daimler nach Sindelfingen zog, fackelt nicht lange. 1:0, der Rest ist Jubel in Blau
und Weiß.
Conens Koffer
Der VfL Sindelfingen hat es tatsächlich geschafft und Alfred Wagner war dabei. Die Ernte der Arbeit: Es folgen einmalige Spiele wie die gegen die Stuttgarter Kickers mit sagenhaften Größen wie Edmund
Conen. Wie alle anderen muss sich auch der Nationalspieler nach dem Spiel in der Badeanstalt in der Gartenstraße waschen, weil es oben im Blockhaus auf der Steige kein fließendes Wasser gibt. „Die
Jungs haben sich darum gestritten, wer ihm und den anderen Starspielern den Koffer in die Stadt tragen darf“, erinnert sich Alfred Wagner.
Doch es wird dunkel um den VfL. Der Krieg frisst erst die Spiele und dann die Spieler. Aus der Zehnerliga werden zwei getrennte Staffeln, Sindelfingen bleibt in seiner chancenlos. 39 aktive und
ehemalige Sindelfinger Fußballer verlieren ihr Leben. Bald bleibt nur noch die Jugend, die Mannschaften stellt. Alfred Wagner ist dabei, manchmal, so wie in der B-Jugend an den Magstadter Buchen,
besteht ein Team auch nur aus zehn Spielern. Die Liebe des Sindelfingers für den Fußball und seinen VfL bleibt jedoch bis heute ungebrochen.
Alfred Wagner fiebert für seine Farben, erlebt andere Sternstunden wie den Aufstieg in die Meisterschaft 1953 in der Amateurliga Württemberg, die anschließenden Spiele um die Deutsche
Amateurmeisterschaft mit Siegen gegen Würzburg und Urbar und dem bitteren Aus gegen den späteren Deutschen Amateurmeister Bergisch Gladbach. Unvergessen auch der 3:2-Sieg zur Einweihung des
Floschenstadions am 8. August 1954 gegen den 1. FC Nürnberg, der zwar ohne Max Morlock, aber doch mit breiter Kapelle antrat.
Aber das Größte, an das sich Alfred Wagner erinnern kann, war diese Reise vor 80 Jahren nach Heilbronn.